Ein Traumwetter! Offiziell haben wir heute unseren freien Tag, was aber unsere beiden Wandergruppen nicht davon abhält, ihre Touren durchzuführen. Ich dagegen will mein Ziel, die Schneekoppe zu besteigen, in die Tat umsetzen.
Um 8:40 Uhr breche ich auf. Den steilen Aufstieg östlich der Spindlerbaude gehe ich langsam an, es macht mir nichts aus, wenn mich dabei andere Wanderer überholen.
Viele sind es um diese frühe Zeit noch nicht.
Am Mittagstein (cz. Polední kámen/p. Słonecznik) lege ich eine kurze Rast ein.
Im Licht der noch niedrig stehenden Sonne sind die Inschriften an der "Körber-Bank" besonders gut sichtbar.
"Riesengebirge, deutsches Gebirge" heißt es im Riesengebirgslied. Diese Zeiten sind längst passé. Und doch höre ich bei den vielen Wanderern, die mir auf dem Kammweg begegnen, immer wieder einmal deutsche Worte. Überwiegend sind es Menschen im Rentenalter oder kurz davor. Dagegen wandern sehr viele junge Polen und Tschechen den Kammweg, selbst ganze Familien oder auch jüngere Paare, bisweilen von einem Hund begleitet.
Man grüßt sich freundlich auf Tschechisch mit "Dobry den", Polnisch mit "Dzień dobry" oder noch kürzer einfach mit "Dobry".
Bald bin ich wieder am Großen Teich (Wielki Staw). Heute leuchtet er in diesem tiefen Blau, das ich aus den Fotos im Internet bereits kenne.
Der Kleine Teich (Mały Staw) glitzert in der schon etwas höher stehenden Sonne.
Die Kleine Teichbaude heißt auf Polnisch "Schronisko Samotnia". "Samotnia" bedeutet soviel wie Abgeschiedenheit oder Einöde. Als Ludwig Richter den Kleinen Teich im Jahr 1839 malte, mochte das noch zutreffen. Heute ist davon nichts mehr zu spüren.
Sowohl die Kleine Teichbaude als auch die etwas höher gelegene Hampelbaude (Schronisko Strzecha Akademicka)
sind willkommene Einkehrmöglichkeiten für den Wanderer, der dort auch übernachten kann. Wie gerne wäre ich vom Kammweg zum Kleinen Teich abgestiegen und ein wenig an seinem Ufer entlangspaziert. Leider habe ich dafür keine Zeit. Auch die Abzweigung zur Wiesenbaude (Luční bouda) bleibt heute ungenutzt. Schon längst ist die Schneekoppe (cz. Sněžka/p. Śnieżka) in Sicht, sie beschleunigt meine Schritte. Schließlich geht es wieder etwas bergab, auf das Schlesierhaus (Schronisko Dom Śląski) zu.
Schon kommen von links ganze Horden von Turnschuhtouristen. Sie sind von Krummhübel (Karpacz) auf der polnischen Seite mit dem Lift zur Kleinen Koppe (Malá Kopa) heraufgeschwebt.
In einer guten Viertelstunde sind sie am Schlesierhaus, ich brauchte dafür drei Stunden.
Vor dem Haus steht ein wahrer Schilderwald.
Es ist bald Mittag, ich schaue kurz hinein, der Gastraum ist fast leer.
Kein Wunder, denn die meisten Besucher wollen auf den Gipfel der Schneekoppe. Von ganz oben, aus einem kleinen Dachgaubenfenster, schaut dem seltsamen Treiben ein Husky zu.
Gerne wüßte ich, was er über die Menschenmassen denkt, die hier vorbeikommen. Aber wahrscheinlicher ist, dass er sich schon auf den kommenden Winter freut, an den er aufgrund seiner aus dem nördlichen Sibirien stammenden Vorfahren bestens angepasst ist.
Ich gehe weiter und mir fällt auf, dass der Zickzackweg auf den Gipfel seltsam unbenutzt wirkt. Kein Wunder, er ist gesperrt.
So bleibt mir nichts anderes übrig als den längeren aber dafür weit weniger steilen Jubiläumsweg (Droga Jubileuszowa) auf den Gipfel zu benutzen. Seinen Namen hat er von der Einweihung anlässlich der 25-Jahrfeier des Riesengebirgsvereins im Jahr 1905.
Vom Jubiläumsweg aus habe ich einen sehr schönen Blick in den Melzergrund (Dolina Łomniczki). Vor allem dessen oberer Teil (Kocioł Łomniczki) ist sehr eindrucksvoll.
Etwas weiter oben zweigt nach links die Fortsetzung des Kammweges in Richtung Grenzbauden (Pomezní Boudy) ab.
Links des Weges liegt die polnische, rechts die tschechische Seite. Nur noch 6,5 Kilometer sind es bis zu den Grenzbauden, einem Ortsteil von Klein Aupa (Malá Úpa) und dem Ende des Kammweges.
Kurz danach packt mich der erste Schreck. Die häßliche Liftstation der vom tschechischen Petzer (Pec pod Sněžkou) hockommenden Seilbahn taucht auf. Sie ist schon seit längerer Zeit nicht in Betrieb, aber es wird daran gearbeitet.
Rechter Hand steht noch so ein häßlicher Klotz mit Aussichtsterrasse. Es ist das tschechische Postamt.
Da gefällt mir das links gelegene Denkmal schon besser.
Endlich bin ich wieder auf der Schneekoppe! Die Schneekoppe, die der Zobten in Paul Kellers "Bergkrach" als "ale Gake" (alte Gans) beschimpft hatte. Mehr als 35 Jahre liegen zwischen meinen beiden Besuchen. Auch damals war es nicht ganz leicht, den Gipfel zu erreichen. Als wir den Massenbetrieb an der Talstation des Lifts in Krummhübel (Karpacz) sahen und uns ausrechnen konnten, dass bis zur Auffahrt noch etwa zwei Stunden vergehen würden, zogen wir es vor, per Pedes aufzusteigen. Einmal auf dem Gipfel, durften meine Mutter und ich die polnisch-tschechische Landesgrenze aber nicht überqueren. Wir hielten uns nur kurz dort auf und wurden sofort von einem Grenzer zurückgewiesen. "Wie schön, dass sich die Zeiten geändert haben", denke ich. Aber nein, die Menschen haben sich geändert. Und das ist das Positive!
Von meinem damaligen Besuch erinnere ich mich noch gut an die dem heiligen Laurentius geweihte Gipfelkapelle und gleich daneben die polnische Baude, die wie ein Ufo aussieht.
Auf den Bänken davor genießen die Menschen den wunderbaren Ausblick in den Talkessel von Hirschberg (Jelenia Góra) bei strahlendem Sonnenschein.
Ich gehe wieder ein wenig auf die tschechische Seite zurück, um einen Blick in den Riesengrund (Obří důl) zu werfen. Durch ihn könnte man, sehr gute Kondition vorausgesetzt, von Petzer zur Schneekoppe aufsteigen.
Der Blick von der Schneekoppe in Richtung Westen ist grandios.
Fünf Wege treffen sich am Schlesierhaus. Der erste, auf dem Foto nicht mehr sichtbare, führt vom Riesengrund herauf. Der zweite kommt von der Wiesenbaude, der breite mittlere ist der Kammweg, auf dem ich kam, rechts davon befindet sich der Zugang von der Kleinen Koppe und ganz rechts am unteren Bildrand der Weg aus dem Melzergrund.
Ich schaue noch einmal in Richtung Krummhübel und wundere mich ein wenig über den großen Gebäudekomplex. Er beherbergt ein erst vor ein paar Jahren erbautes Luxushotel mit fast 900 Zimmern.
Der Trubel auf dem Gipfel der 1602 Meter hohen Schneekoppe ist schon heftig. Und das an einem Werktag Ende August. Vielleicht sollte ich im November einmal wiederkommen ...
Schließlich mache ich mich, zusammen mit vielen anderen, wieder an den Abstieg. Ebensoviele begegnen uns auf ihrem Weg zum Gipfel.
Ein rennender Sportler mit seinem Hund überholt mich, er war mir schon beim Aufstieg begegnet. Ich kann es kaum glauben, aber am Schlesierhaus schaut der Siberian Husky wieder (oder immer noch?) aus seinem Fenster, obwohl inzwischen etwa zweieinhalb Stunden vergangen sind.
Es ist jetzt etwa 13:40 Uhr und ich bin auf dem Rückweg. Bald befinde ich mich wieder oberhalb des Kleinen Teiches. Beunruhigend dunkel blickt zu mir herauf.
Am Mittagstein gehe ich jetzt vorbei, denn der Himmel zieht sich hinter mir in Richtung Schneekoppe immer mehr zu.
Der Blick nach Westen wirkt beruhigender.
Knapp oberhalb der Spindlerbaude drehe ich mich noch einmal um.
Es sind nur noch einige hundert Meter, aber zu spät. Zuerst tröpfelt es nur, um schließlich kurz vor der Baude in eine wahre Sturzflut überzugehen. Fünf Minuten lang stelle ich mich unter das Vordach am Eingang. Zum Glück läßt der Regenschauer nach und ich kann weiter laufen. Gegen 16:40 Uhr schließlich bin ich wieder an der Erlebachbaude.
23 Kilometer bei einem Auf- und Abstieg von je etwa 450 Metern habe ich heute zurückgelegt. Es war recht anstrengend, aber dieses Erfolgserlebnis kann mir niemand nehmen.